Wer zum ersten Mal aus dem Treppenhaus hinaus ins Freie tritt, fühlt sich plötzlich wie in einer anderen Welt: duftender Lavendel, sprießende Tomaten, wilder Wein und dazu großzügige Rasenflächen. Man hört Kinder lachen und entdeckt sie in einem Sandkasten, nicht weit entfernt steht ein Planschbecken. Überall summen im Sommer Bienen und Hummeln, am Abend ziehen hoch oben Amseln und Mauersegler ihre Bahnen. In der untergehenden Sonne hat eine Yogagruppe sich auf dem Gras eine Ecke gesucht und die Matten ausgerollt.
Entspannen unter freiem Himmel
Was sich die rund 250 Bewohnenden unweit des Ostkreuzes hier geschaffen haben, ist mehr als nur eine kleine grüne Oase. Auf 1.450 Quadratmetern, fast zwei Handballfelder groß, erstrecken sich seit November 2016 für die rund 100 Wohnparteien sechs Dachterrassen, nur ein paar Stufen von der Wohnungstür entfernt. Kinder und Erwachsene kommen gleichermaßen auf ihre Kosten. Sogar an Toiletten und Küchen wurde gedacht. Wer entspannen will, legt sich entweder in eine Hängematte oder direkt ins Gras.
Das Gründach ist inzwischen ein Nachbarschaftstreff, nicht zuletzt durch die Konzerte, die hier im Sommer stattfinden. Das Projekt stärkt das Gemeinschaftsgefühl im Haus. Dazu trägt auch die gemeinsame Verantwortung für die Bepflanzung bei. Insgesamt 22 Hochbeete stehen in festen Pflegepatenschaften, immer zwei Parteien im Haus pflegen ein Beet gemeinschaftlich. Hier wachsen neben Tomaten, Kartoffeln und Zucchini auch Salate, Kräuter, Erd- und Brombeeren. Die abwechslungsreiche Bepflanzung sehen die Menschen im Haus als ihren Beitrag zur Biodiversität. Zum nachhaltigen Projektansatz gehören überdies zwei Thermokomposter, die Gartenabfälle in nährstoffreiche Erde verwandeln.
Regenwasser mitgedacht
2016 formierte sich im Rahmen der monatlichen Treffen der Baugruppe eine »AG Dachgarten«. Sie beriet über die künftige Nutzung und Ausstattung der Dachflächen und erarbeitete Vorschläge. Im Fokus stand für die Gruppe auch, mit der Begrünung der Dachflächen einen Beitrag zur dezentralen Regenwasserbewirtschaftung zu leisten. So wird das Regenwasser im Gründach zwischengespeichert. Ein Teil des Wassers verdunstet und verbessert dadurch das Mikroklima. Ein anderer wird über ein Drainage-System verzögert abgeleitet und kann so mögliche Auswirkungen von Starkregen abmildern. Zudem schützt und dämmt die Begrünung das Dach.
Ganz systematisch ist die AG auch beim Aufbau der Dachbegrünung vorgegangen. Diese besteht aus einer Wurzelschutzfolie, einer Speicherschutzmatte, den Drainageelementen, einem Filtervlies und einer 20 Zentimeter dicken Substrat inklusive Vegetationsschicht. Zusätzlich sorgt eine automatische Bewässerungsanlage insbesondere in Trockenzeiten für die Grundversorgung der Pflanzen.
»Grüne Dächer sind ein wichtiger Baustein für das Berlin von morgen.«
Nachahmung empfohlen
»Grüne Dächer sind ein wichtiger Baustein für das Berlin von morgen«, bestätigt auch Berlins Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Regine Günther. »Sie holen die Natur in die Stadt. Dadurch wird Berlin lebenswerter und gleichzeitig widerstandsfähiger gegen Wetterextreme.« Unter der Schirmherrschaft der Senatorin hatten die Berliner Wasserbetriebe und die Regenwasseragentur 2018 einen Wettbewerb um das schönste Berliner Gründach ausgerufen. Immerhin sind zwar rund 18.000 Dächer in Berlin begrünt, machen aber erst vier Prozent aller Dachflächen aus.
Großes Potenzial: Nur vier Prozent der Dachflächen in Berlin sind begrünt.
Die Einsendungen zum Wettbewerb haben gezeigt, dass sich beinahe jedes Dach mit etwas Phantasie zu einem Ort umgestalten lässt, der einerseits Raum für Erholung bietet und die Stadt zudem widerstandsfähiger gegen die zunehmenden Wetterextreme macht. Eine Expert:innenjury mit Delegierten des Bundesverbands Gebäudegrün, des Fachverbands Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau, des Projekts Flussbad Berlin und des Tagesspiegels hatte die Qual der Wahl: Sie traf eine Vorauswahl der fünf besten Einsendungen, über welche die Berliner:innen dann online abstimmen konnten.
»Der Mehrwert eines Gründachs liegt nicht nur in seiner Ästhetik und technischen Funktion, sondern auch in seiner Zugänglichkeit für möglichst viele Nutzende.«Jörg Simon, Vorstandsvorsitzender der Berliner Wasserbetriebe
Drei Wege zum Gründach
Gründächer bestehen, von unten nach oben, aus mehreren Schichten: einer wurzelfesten Dachabdichtung mit Schutzlage, der Drainageschicht, einem Filtervlies und einer Substrat- sowie Vegetationsschicht.
Je nach Aufbau, Nutzungsmöglichkeit und Pflegeaufwand wird in drei Arten von Gründächern unterschieden:
- nicht begehbare extensive Gründächer mit max. 15 cm dünner Substratschicht, in der Regel mit Kräutern, Sedum oder Moosen bepflanzt,
- begehbare intensive Gründächer mit dickerer Substratschicht, wo neben Stauden, Bäumen und Rasenflächen auch Platz für Wege oder Spielflächen ist sowie
- sogenannte Retentionsdächer, die dank Stauräumen unter der Substratschicht größere Niederschlagsmengen zwischenspeichern und sowohl extensiv als auch intensiv begrünt werden können.
Das Rennen unter denen, die Kreativität und den bewährten Grünen Daumen zum Einsatz brachten, machte am Ende der Dachgarten in Friedrichshain – zur großen Freude seiner engagierten Helfer:innen. »Wir haben in der Jury darüber diskutiert, dass der Mehrwert des schönsten Gründachs nicht nur in seiner Ästhetik und technischen Funktion liegt, sondern eben auch an seiner Zugänglichkeit für möglichst viele Nutzende«, sagt Jörg Simon, Vorstandsvorsitzender der Berliner Wasserbetriebe. »Diese drei Kriterien vereint das Projekt in Friedrichshain in idealer Weise. Wir wünschen uns, dass solche Projekte viele Nachahmer:innen finden.« Die Politik unterstützt diesen Gedanken: Ab dem Frühjahr 2019 wird das Land Berlin engagierte Bürger:innen mit dem Programm »1.000 Grüne Dächer« fördern.
Mehr Informationen zum Thema Dachbegrünung gibt es unter anderem beim Bundesverband GebäudeGrün e. V.